Frei im Raum
Ferienwoche vom 21.08. bis 25.08.2017
„Frei im Raum“ war ein Tanz-Workshop für Kinder/Jugendliche im Alter von 10 – 14 Jahren, dessen Hauptaugenmerk auf der Wahrnehmung und Erkundung von Umgebungen beruht. Aus der Begegnung von Raum und TänzerIn entstehen Atmosphären, aus denen heraus Bewegung und Tanz entwickelt wird. Spezielle Orte (Heterotope ) bringen eigene Tänze hervor – Research sozialer Choreographien.
Zur Einleitung eine kurze Erläuterung der Begriffe: Heterotope
Schon immer haben Menschen Orte gewählt und Räume geschaffen. Aus den Räumen werden durch ihre Benutzung, die entstehende Geschichte, ebenfalls neue Orte. Die geschaffene Urbanität, Räume, unterliegen einem Zweck, einer Bedeutung. Wir bauen uns Räume, Gebäude, Plätze, Monumente für bestimmte Bedürfnisse. Ein Zuhause, für alles Private, mit eigenem Schutz versehen, zum Schlafen, Kochen, Essen – ein Heim für die Familie oder ein Rückzugsort. Innerhalb einer Stadt gibt es aber noch viele andere Spezialgebäude: Tankstellen und Tiefgaragen, Einkaufszentren und Gotteshäuser. Es gibt Räume, in denen sich jeder die Haare schneiden läßt, oft getrennt nur durch eine Glasscheibe von einem Ort, an dem einem niemand in die Haare fassen darf. Es gibt Bereiche zum Parken oder Sitzen, zum Innehalten oder zum Boxen. Wir unterscheiden auch, wo getanzt und geküsst wird, wo gegessen und wieder ausgeschieden wird.
Tatsächlich gibt es verschieden Tempi und Verhaltensmuster, die an einen Ort gebunden sind. Hätte ich in oder an einem anderen Ort die gebundenen Bewegungsmuster des ersteren, fiele ich aus der Norm.
Als erstes gibt Michel Foucault hier für den Namen: Heterotope. Er definiert sie mit sechs Prämissen:
- Heterotopien sind universal. Sie existieren in allen Kulturen.
- Heterotopien unterliegen Umdeutungen innerhalb einer Gesellschaft (über Zeit und Koinzidenz).
- An einem Ort sind mehrere in sich unvereinbare Plazierungen möglich.
- Heterotopien sind häufig an Zeitsprünge gebunden (Heterochronien), Beispiele hierfür sind Museen, die „die Zeit speichern“.
- Heterotopien bestehen in einem System der Öffnungen und Schließungen, bspw. was die Zugehörigkeit und Zugänglichkeit der Heterotopie anbetrifft.
- Heterotopien haben eine Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum inne.
Fred Truniger und Sabine Wolf folgern in ihrem Aufsatz Heterotopien dazu folgendes: „Die Stadt kann unter verschiedensten Gesichtspunkten betrachtet werden. Jede Betrachtungsweise wird eine andere Stadt behandeln. Statt von der Stadt zu sprechen, müsste man korrekt von vielen Städten sprechen, auch wenn man nur einen spezifischen Ort meint, eine ein-deutige Koordinate auf der Landkarte. Wir haben uns entschieden, die Stadt als Raum zu betrachten, als Raum sozialer und gesellschaftlicher Prozesse. Dieser Raum ist nicht singulär und nicht eindeutig definierbar. Er äußert sich vielmehr als Gemengelage von Beziehungen unter BewohnerInnen, ansässigen Institutionen, der Gesellschaft als Ganzes, etc.“
Übertragen auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen heißt das, mit ihnen unterschiedliche Orte zu erforschen. Wahrnehmen, wie mein eigenes Verhalten, meine Körperlichkeit sich verändert, wenn ich in der Einkaufsstraße, in der Kirche in der Fotobox, der Tiefgarage oder auf einem großen leeren Parkplatz bin.
Gernot Böhme spricht von der Rolle der Atmosphäre. „Eine Atmosphäre muss man spüren. Das setzt leibliche Anwesenheit voraus, sei es nun, dass man eine Landschaft oder einen Raum aufsuchen muss oder sich der Ausstrahlung eines Kunstwerkes aussetzt. Man spürt die Atmosphäre in seinem Befinden und zwar als eine Tendenz, in eine bestimmte Stimmung zu geraten. Man wird von einer Atmosphäre gestimmt“.
Die Gruppe
Prinzipiell kann jeder zwischen 10 und 14 Jahren in diesem Workshop mitmachen. So entstand eine durchaus heterogene Gruppe mit inklusivem Charakter. Möglich ist das, da nicht eine Unisono-Choreographie einstudiert werden soll. sondern sich jeder auf den Weg machen soll, etwas für sich zu finden – durchaus mit der Möglichkeit natürlich einen gemeinsamen Tanz daraus zu finden. Anders gesagt, ein offenes Curriculum fordert die individualisierte Fähigkeiten.
Die Woche
Montag, 21. August 2017
Wir verbringen den ganzen Tag im Außengelände des Umweltzentrums Krefeld. Ein Gelände, das sich zum einen durch seinen wilden Wald, die Lichtungen und Feuchtgebiete auszeichnet, aber auch durch seine Skurrilitäten. Diese entstehen durch die über das Gelände verstreuten Betonartefakte, da das Gelände ursprünglich eine Betonfabrik war.
Wir konnten auf die verschiedenen Charaktere des Geländes eingehen und damit umgehen.
Dienstag, 22. August 2017
Vormittag
Die innerstädtische Friedenskirche ist eine aktive Kirche mit Schwerpunkt Kulturarbeit.
Nach einer ausführlichen Führung in wirklich alle Winkel der Kirche inklusive der Benutzung der großen Kirchenorgel, Flügel und Spinett durften sich die Teilnehmenden eine Räumlichkeit aussuchen, in der gearbeitet wurde. Alles, was der Altarraum, die Kanzel, die Kunstwerke boten, wurde zu einen Stück integriert.
Nachmittag
Nach den engen und feinteiligen Arbeiten des Vormittags wurde die Weite zum Thema: Wie bringe ich leiblich große Räume zusammen, wie bespiele ich einen Platz, der nicht abzulaufen ist, usw. Hierzu fuhren wir an den Rhein und die anliegenden Auewiesen
Mittwoch, 23.August 2017
Der Vormittag kennzeichnet die Arbeit im Dachstuhl und dem Glockenturm der Friedenskirche. Über dem Gewölbe des Kirchenschiffs war es uns möglich, auf den gestelzten Wegen und den verworrenen Konstruktionen des Metall-Gebälks herauszufinden, welche Musiken in so eine Atmosphäre passen. Frage: Welche Aufgabe hat die Musik? Taktgeber, atmosphärischer Unterstützer, Antagonist? Ist manchmal das Gegenteil spannender als die erwartete Harmonisierung einer Situation?
Nachmittag
Die Innenstadt von Krefeld ist nicht anders als andere Städte, doch geht es darum, der alltäglichen Situationen gewahr zu werden. Welchen öffentlichen Raum kann ich mir erobern? Habe ich Mut, alleine im Aufzug zu fahren und dort zu tanzen, auch wenn andere einsteigen (haben wir in der Hochgarage ausprobiert)?
Wie gehen Menschen und welche Bewegungen fallen aus der Norm und erwecken automatisch Aufmerksamkeit? Kann ich normal gehen, wenn ich bewusst gehe? Oder anders gefragt, mit welchen Bewegungen werde ich in der Menge unsichtbar bzw. auffällig?
Des Weiteren haben wir auf Initiative der Teilnehmenden eine kleine Umfrage in der Einkaufszone zum Thema Tanz durchgeführt.
Wir sind der Frage nachgegangen, ob die Strömung einer Stadt choreographiert ist – also von Stadtplanern geschaffen.
Ist der Verkehrsfluss einer Stadt eine Strömung? Er wird durch Schilder und Architektur klar gelenkt, durch Raum und Zeit. Schnellere Abschnitte wechseln mit langsamen, es gibt ein Freeze vor einer roten Ampel, wenn man so will ein „off stage” auf dem Parkplatz. Eine choreografische Ordnung im öffentlichen Raum.Den Abschluss des Tages bildeten Spiel auf der Dachplattform der Hochgarage über den Dächern der Stadt.
Donnerstag, 24.August 2017 (Bunker, Zoo)
Vormittag
Sicherlich ein Highlight war der Bunker-Besuch.
Der leerstehende, unterirdische Bunker Hansastraße aus dem zweiten Weltkrieg mit einer Länge von 165 m, sollte mehr als 12.000 Menschen Schutz bieten.
Der Bunker, gebaut direkt neben der im Hansa-Haus untergebrachten Kreisleitung der NSDAP und der Gestapo, war der größte Krefelder Bunker als Ergebnis eines Luftschutzprogramms, das seit 1935 den Bau von Luftschutzkellern und ab Oktober 1940 den Bau von Luftschutzbunkern vorschrieb. Mit Hilfe von “Fremdarbeitern” sollte das Programm in kürzester Zeit durchgezogen werden, denn ein Krieg war für die Menschen nur denkbar, wenn zumindest die Illusion bestand, man könne ihn überleben.
Die TeilnehmerInnen hatten freie Hand, sich den Raum zu Nutze zu machen. Faszinierend ist eines der Ergebnisse, in dem die verstreut liegenden Rohre zur Musikverstärkung umgerüstet wurden und die Teilnehmenden die Akustik zum tänzerischen Element machen konnten. Da ein Reporterbesuch anstand, wurden selbständig kleine Stücke einstudiert.
Nachmittag
Im Zoo wurden 5 Tiere unter genauere Beobachtung genommen. Thema war das innerliche Einfühlen. Also nicht, wir tanzen eine Elefanten nach, sondern, ja eigentlich meditieren wir, stellen wir uns vor, wie es sich anfühlt, wenn ich den entsprechenden Körper hätte. Wie fühlt es sich an, vier Beine zu haben, oder so hektisch wie ein Erdmännchen und so gelassen wie eine Galapagosschildkröte zu sein? Von außen betrachtet, sah man nur still stehende Kinder vor einem Tier. Innerlich wurde Empathie getanzt.
Freitag, 25. August 2017
Das gesamte Werkhaus (Bildungszentrum mit Trainingsräumen, spannenden Kellerräumen, Café etc.) stand uns den ganzen Tag zur Verfügung. Nach einem ausführlichen Tanztraining konnten die Teilnehmenden sich aufteilen oder alleine an Stücken arbeiten. Grundlage war die Basis der Woche. Bei den Ergebnissen dieses Tages wurden die unterschiedlichen Interessen und Ästhetiken sehr deutlich. Während sich in einem der Tanzräume eine kleine Gruppe fand, die sich doch lieber dem VideoClip-dance widmete, fand sich in einem Keller die größere Gruppe ein, die mit vielen Packkartons eine Performance entwickelte, die aus Standbildern und Blacks ein originelles Stück und eine ungewöhnliche Form der Darbietung entwickelte. Immer wieder wurden Zwischenergebnisse gezeigt und von allen Beteiligten diskutiert.
Das Projekt war ein Kooperationsprojekt von Kulturbüro Krefeld und Werkhaus e.V. und wurde über den Kulturrucksack NRW gefördert.