Kommentar von Dr. Opfermann zum Flyer der Gedenkveranstaltung
Am 16.12.2019 veranstalteten Schüler der Albert-Schweitzer-Schule und des Gymnasium Fabritianum eine Gedenkfeierlichkeit zum “Porajmos-Tag”. Ihre Einladung zur Veranstaltung gestalteten sie mit einem flyer, auf den sich dieser Kommentar bezieht:
Dr. Ulrich F. Opfermann
„Toleranz für Andersartigkeit“ – aus gegebenem Anlass
Zu spät, um noch in irgendeiner Weise dazu das Wort ergreifen zu können, erreichte mich eine Bitte zu der Gedenkveranstaltung „Erinnerung an den Porajmos“ im Krefelder „Südbahnhof“, die am Jahrestag des sogenannten Auschwitz-Erlasses zur Deportation von „Zigeunern“ und „Zigeuner-Mischlingen“ in das Vernichtungslager stattfand. Sie kam von sachkundiger Seite und hatte die einleitenden Worten „o weh, wie sind sie denn auf dieses Foto gekommen???“ Es ging um das folgende, die Einladung zu dieser Veranstaltung bebildernde Foto:
Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Foto aus einem Konvolut von Fotografien zum Thema, das vor einigen Jahren das Bundesarchiv an Wikimedia Commons, der Bildersammlung von Wikipedia, abgab und dessen Inhalt gemeinfrei von jedermann verwendet werden kann:
Der Begleittext dazu (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-B11267,_Warschau,_drei_Sinti_und_Roma-Frauen.jpg) lautet:
„Warschau, drei Sinti und Roma-Frauen Polen. Zigeunerinnen in Warschau. PK-Aufnahme: Kriegsberichter: Hugo Jager” und sagt zusätzlich „files from the inventories ‚Bild 101 Propagandakompanien der Wehrmacht’ and ‚Bild 183 ADN’ may have particularly extreme descriptions“. Als Entstehungs(?)zeitpunkt ist der September 1940 angegeben.
Dem Inhalt nach handelt es sich bei den Abgebildeten um außerordentlich andersartige, nachgerade „orientalisch“ gekleidete Menschen. Offenbar ist mit der im Ausschnitt quer über das Bild gesetzten Aufschrift „Gemeinsam gegen Vorurteile!“ gemeint, es möge der Betrachter angesichts von Fremdartigkeit keine Vorurteile entwickeln.
Leider handelt es sich bei der Entscheidung für diese Illustration um eine äußerst fragwürdige Wahl, denn der Ausschnitt wie auch das Bild insgesamt geben die Perspektive eines NS-Propagandafotografen wieder und der Appell, keine Vorurteile zu entwickeln, bestätigt dem mitteleuropäischen Betrachter seine Vorstellung einer ausgeprägten Andersartigkeit von „Zigeunern“. Für den Propagandafotografen musste es darum gehen, eine unaufhebbare Differenz zwischen einerseits der Zivilisiertheit von Angehörigen der deutschen Volksgemeinschaft mit ihrer germanisch-arischen Herkunft und andererseits auf Wildbeuterstand zurückgebliebenen orientalischen „Zigeunern“ in Szene zu setzen. Ein Kommentar, der diese aus postnazistischer Sicht nicht wünschenswerte Bildwirkung aufheben könnte, ist der Abbildung nicht beigegeben. Wen das Bild tatsächlich zeigt, muss im übrigen offen bleiben, denn mitteleuropäische Angehörige der Minderheit kleideten sich in den 1940er Jahren auch in Polen so nicht. Das Foto bekräftigt massiv eine Vorurteilshaltung und befüttert völkische ausgrenzende Vorstellungen.
Die sind, wie die Bildverwendung illustriert, nach wie vor durchaus im Schwange. Das belegt ein weiteres Beispiel, exakt dasselbe Bildmotiv war vor einigen Jahren in der Süddeutschen Zeitung zu sehen. Ganz ähnlich diente es als Illustration ausgerechnet für einen Gedenkartikel zum 16. Dezember 1942. In diesem Fall war es bezogen auf die Wittgensteiner Kreisstadt Bad Berleburg, von wo im März 1943 in Umsetzung des Aufschwitz-Erlasses 134 Nachfahren von Sinti deportiert wurden, die dort seit dem 18. Jahrhundert beheimatet waren. Hier wurden die abgebildeten „polnischen Zigeunerinnen“ zu Bewohnern der Kreisstadt gemacht, und die Bildunterschrift behauptete, es sei die Mehrheit der Berleburger diesen Menschen „nicht wohlgesonnen“ gewesen. Das dürfte angesichts solcher Fremdartigkeit für viele Leser der Süddeutschen Zeitung leicht nachvollziehbar gewesen sein.
Mit Wirklichkeitsnähe hat das PK-Bild nichts zu tun, was ja auch nicht seine Aufgabe war. Abgebildet und bekräftigt werden Zigeunerfantasien. Dazu im Kontrast ein Bild von einer Berleburger Familienzusammenkunft. Es handelt sich um eine der von der späteren Deportation betroffenen Familien. Zu sehen sind selbstverständlich auch Nicht-Sinti-Nachfahren aus Berleburg, die mit der Familie verwandt und bekannt waren. Ein Unterschied der Kleidung, eine “ethnisch” typische und abweichende Kleidung, an der sich Fremdartigkeit festmachen ließe, ist nicht auszumachen. Das Bild gibt Realität und Normalität wieder:
M. E. wird hier mithilfe des NS-Propagandafotos eine im “Zigeuner”- und im Vorurteilsdiskurs vorherrschende Hauptidee unserer Zeit bebildert: “Toleranz für Vielfalt”. Die Vielfaltforderung konserviert die Verschiedenheit und die Andersartigkeit. Um Vielfalt einfordern zu können, muss man die Differenz im Kopf haben, und die ist in diesem Fall nicht auf den einzelnen bezogen. Es ging der NS-Propaganda ja auch gerade nicht um individuelle Unterschiedlichkeit. Sie behauptete unterschiedliche, je andersartige kollektive Persönlichkeitsmuster und Kollektivkulturen als homogene Entitäten. Präziser: sie behauptete unterschiedliche geschlossene Ethnizitäten.
So findet sich das dann nach wie vor, auch an unerwarteten Orten, also z. B. 2018 in einem Interview der Netzzeitschrift Theorie und Praxis der sozialen Arbeit der AWO mit dem bekannten österreichischen Feuilletonisten Karl-Markus Gauß, der seine realitätsabgewandten Abstraktionen zu einem gruppenschützerischen Lob wendet und meint, „die Roma“ hätten „uns“ etwas voraus: „Sie haben eine über die Grenzen gehende Grundprägung. Wenn man jetzt versucht, ihnen diese geradezu auszutreiben, dann zerstört man sie.“ Es ist leider nur die Überhöhung eines Uraltklischees, was er vorträgt. Und in einem 2017 erschienen Buch über die „Kontinuität des Antiziganismus“, in dem der Leiter einer Volkshochschule am linken Niederrhein von einer „Koexistenz der Lebensformen“ schwärmt, findet sich anschließend sein Plädoyer für „die gegenseitige Anerkennung der verschiedenen kulturellen Mitgliedschaften“. Das beinhalte „auch das Anderssein der Sinti und Roma als Teil einer vielgestaltigen europäischen Kultur.“
Dass man da als Außenstehender anderer „Kultur“/„Ethnizität“ keinen Zutritt habe und haben müsse oder dürfe, schließt bei aller proklamierten „Vorurteilslosigkeit“ an die Grundidee von der kollektiven Andersartigkeit unmittelbar an. Besser also, man bleibt jeweils für sich, da der einzelne ja nur in der „eigenen Kultur“ seine „Identität“ optimal entwickeln könne. Und das sei wohl allen zu wünschen. Kritiker nennen diese abstrakte Gleichwertigkeit der Gruppencharaktere, die nichts mit der égalité der Menschen im Sinne etwa der französischen bürgerlichen Revolution zu tun hat, auch „Ethnopluralimus“. Ich erspare es mir, darauf zu verweisen, wo der politisch seine Heimat hat.
Dazu passt, dass es üblich ist, mit der „Mehrheitsgesellschaft“ der Roma-Minderheit eine schon der Zahl nach gewichtigere Größe gegenüberzustellen. Minderheit und Mehrheit stehen in dieser Vorstellungswelt einander so klar abgegrenzt gegenüber, wie früher „Zigeuner“ und „Deutsche“ (oder „Franzosen“, „Russen“ usw.) einander gegenübergestellt wurden. Es handelt sich um die Fortführung des tradierten Antagonismus, um die Beibehaltung der alten Grenzziehungen und Grenzbefestigungen. Nach Anspruch nun ohne Vorurteile. Wie bei der Andersartigkeit handelt es sich auch bei dieser „Mehrheitsgesellschaft“ tatsächlich um ein Fantasiegebilde, denn es fehlt ihr vor allem eins: Homogenität. Sie ist höchst fragmentiert und zutiefst ungleich. Die interne Gleichheit, die sie zu „einer“ Gesellschaft machen würde, wird ihr nur angeredet.
Der Gegenüberstellung von „wir“ und „sie“ lässt sich kaum beikommen, indem man gegen die individuelle Macke „Vorurteil“ ankämpft und erklärt, Erziehung müsse das wegmachen. Die Bilderfolge und die Konstanz des Motivs zeigen, dass die Sache tiefer sitzt, dass sie gesellschaftlich und politisch interessegeleitet bestens verankert wurde.
Statt um eine angeblich kollektive Andersartigkeit sollte es vor allem um Toleranz für menschenrechtliche Gleichheit und für eine Gleichheit der Lebenschancen gehen. Das ist für die europäischen Roma, aber nicht nur für sie, sondern auch für viele Angehörige der „Mehrheitsgesellschaft“ nach wie vor nicht gegeben. Das Beharren auf der Andersartigkeit lenkt von dieser Tatsache nur ab.
Ulrich F. Opfermann