Conducting – impro – music
Improvisationsmusik in der Gruppe mit Laien, Fortgeschrittenen und Profi Musiker:innen
Butch Morris (1947- 2013) war ein amerikanischer Komponist, der vielen Menschen weltweit mit seiner Musik und seinen Schriften starke Impulse gab, die heute noch eine große Anziehungskraft ausüben. Er hat uns ein musikalisches Erbe von dokumentierten Konzerten (über 100 Konzerte in 19 Ländern und 84 Städten) hinterlassen, die für Hörende ungewöhnlich und frisch wirken. Er komponierte mit Hilfe einer Reihe von Handzeichen und Gesten, die den Musiker:innen innerhalb einer vorgegebenen Struktur die Möglichkeit und Freiheit für das Spiel im Ensemble gaben. Seine Zeichen setzten das Spiel in Gang und die Kommunikation zwischen Dirigenten und Ensemble konnte beginnen. Die Art der Komposition nannte er „Conducting“, einer Mischung aus Dirigat und Improvisation.
In den folgenden Jahren hat die Methode des Conducting viele Komponisten und Musiker inspiriert und viele Nachahmer gefunden. Auch in der pädagogischen Vermittlung fand seine Arbeit neue Freunde. Es bildeten sich überall in der Welt frei improvisierende Orchester, die sich von den Handzeichen Morris‘ inspirieren ließen. Laienmusiker:innen, Fortgeschrittene und Profis konnten erfolgreich in einem Orchester zusammenwirken und dabei unterschiedliche Instrumente und Soundquellen zum Einsatz bringen. Auch in NRW hatten sich professionelle Musiker:innen in Wuppertal zusammengefunden, die ein Orchester gründeten und seit vielen Jahren immer wieder im Wuppertaler Improvisationsorchester WIO spielen und Tourneen veranstalten.
Im Orchester spielen Musiker:innen, die auch regelmäßig unterrichten und verschiedene Orchester beraten und leiten. Das wollen wir nun in Krefeld nutzen, um die Musiker:innen der Krefelder Szene zu unterstützen. Wir laden einzelne Dozenten des WIO zu uns nach Krefeld ein.
Vier Workshops werden angeboten. Am Ende der Reihe von Workshops wird ein Abschlusskonzert mit dem WIO geplant, dass im Südbahnhof Krefeld stattfindet.
Auf Basis dieser Vorüberlegungen haben wir drei Workshops im Werkhaus, Blücherstraße 13 sowie einen Workshoptag mit einem Abschlusskonzert im Südbahnhof durchgeführt:
10.04.2022 | Das Thema des April-Workshops hieß: Zwischen Beginn und Ending: Interaktionen im freien Spiel.
„…wie finden wir den richtigen Moment für den Einsatz, wie finden wir den richtigen Moment für den Schluss? Wir beachten und beschreiben die Interaktionen der Musiker:innen, ihre Beziehungsformen während der Improvisation, sowohl musikalisch, als auch sozial oder metaphorisch. Die wunderbare Paradoxie der Improvisation ist, dass jede individuelle Entscheidung zum Spiel gleichzeitig von großer Bedeutung, und auch ganz unwichtig sein sollte. Du bist zu jedem Zeitpunkt selbstbewusst der Musik verpflichtet und gleichzeitig offen, wie sich die Musik entwickeln will, wohin auch immer… “
15.05.2022 | Das Thema des Mai-Workshops hieß: Conduction – Zeichen und Gesten leiten ein Orchester
Was steckt hinter den Zeichen und Gesten? Was lösen sie aus und wie kann man als MusikerIn damit umgehen und sie deuten? Gibt es Standards und Regeln; wie groß ist die Freiheit der eigenen Entscheidung für selbstbestimmte Klänge?
02.10.2022 | Das Thema des Oktober-Workshops hieß: Ein Orchester dirigiert sich selbst – das Wagnis Improvisation
war der Titel der Veranstaltung, geeignet für Beginner als auch für erfahrene Improvisatoren, für Lehrende aller Schulformen und TherapeutInnen. Für Menschen, die mutig sind und interessiert an musikalischen Ausdrucksformen.
Neben festen Ensembles wie das Insub Meta Orchestra, dem Mutiple Joyce Orchestra oder dem Ensemble Hiatus ist sie bekannt in spartenübergreifenden Projekten in Verbindung mit Tanz, Theater, Kunst und Film. Außerdem arbeitet sie als Lehrende an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, der Landesmusikakademie NRW und der Musikschule der Stadt Monheim am Rhein. Sie schrieb über die Vermittlung neuer Musik mit der Zeichensprache bei Dirigaten für SchülerInnen und Studierenden. Außerdem ist Angelika Sheridan Mitglied des WIO, des Wuppertaler Improvisationsorchester.
06.11.2022 | Das Thema dieses Workshops: Die Spannung zwischen Individuum und Gruppe, Solist und Orchester
Im freien Spiel stellt sich jede/r MusikerIn die Fragen: spiele ich jetzt, oder pausiere ich, was spiele ich, wie spiele ich, wie bewege ich mich und was kann mein Tun bei meinen MitspielrInnen auslösen? Was nehme ich wahr, was höre ich und was kann ich voraushören, was könnte gleich passieren, bin ich vorbereitet? Wie kann ich mit meinen Klängen oder meinem Pausieren die Musik positiv beeinflussen und bereichern? Wir wollen im Hier und Jetzt spannende Musik entwickeln.
Er arbeitet heute an einer Gesamtschule in Wuppertal als Lehrer für Musik und Sozialwissenschaften. Für seine Tätigkeit als Improvisator war die Teilnahme an Peter Kowalds Projekt 365 Tage am Ort 1994/95 von größter Bedeutung. Heute engagiert er sich insbesondere im “Wuppertaler Improvisations Orchester” und mit theoretischen und praktischen Beiträgen im “Exploratorium” in Berlin.
06.11.2022 | Das Konzert mit beteiligten Dozent:innen sowie Mitgliedern des WIO (Wuppertaler Improvisationsorchester) basierte auf den theoretischen Grundgedanken des Workshops und dauerte ca. 50 min.
1. Einleitung
Wiederholung der wichtigen Dirigierzeichen. Allgemeine Informationen zur historischen Entwicklung der Dirigierpraxis von Improvisationsorchestern:
a. Die Größe eines Orchesters ist nicht relevant. Entscheidend ist der Gedanke, dass die Kollektivität im Vordergrund steht. Die Freiheit des improvisierenden Spiels findet seine Grenze an der Verpflichtung zur Verantwortung der Einzelnen im Gesamtprozess.
b. Didaktische Möglichkeiten der Verwendung und Notation von Zeichen (Handzeichen, engl.: handsignals) in schulischen und anderen Zusammenhängen ohne Vorkenntnisse.
c. Verwendung von Zeichen in Improvisationsprozessen, die primär auf das Improvisieren fokussieren, so dass Zeichen nur gelegentlich zur Orientierung und Strukturierung und eher nicht zur spontanen Komposition verwendet werden sollten. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten: 1. mit dem Improvisieren zu beginnen und nur vorübergehend einzugreifen, indem jemand vor das Orchester tritt und einzelne Impulse gibt, 2. einzelne Stücke von vornherein und bis zum Ende zu dirigieren.
2. Praktische Erarbeitung und angeleitete Wiederholung der wichtigsten Zeichen seitens der Workshopteilnehmer*innen:
a. Dreischrittigkeit sollte immer eingehalten werden: Zeichen für „Wer ist dran“, „Was ist dran“ und „Jetzt geht’s los“ werden nacheinander gegeben, bevor eine Aktion startet.
Tipps: Erarbeitung möglichst kurzer Phasen; evt. pro Teilnehmer*in immer nur ein Zeichen; einmal in der Runde kommt jede/ jeder einmal kurz dran.
3. Individuum und Gruppe:
a. Theoretischer Bezug zur Gruppentheorie – der Mensch ist ein Wesen, das anfangen kann, zugleich in der Gruppe aber größte Schwierigkeiten damit hat.
b. Nur Absprachen, Übereinkünfte, Konventionen, Gewohnheiten, Bräuche und vor allem Techniken erlauben Menschen in der Gemeinschaft etwas beginnen und beenden zu können. Dazu zählt insbesondere zeitliche Absprachen, beispielsweise das Anzählen 1-2-3-4 zum gemeinsamen Ansatz, in der Musik auch der Auftakt zur nächsten „1“.
c. Die Improvisation erhebt dagegen den Anspruch, auf Absprachen und kulturelle Techniken so weit wie möglich zu verzichten. Improvisieren heißt, auf ein archaisches Register menschlichen Handelns zurückzugreifen, das gemeinsam ohne Absprachen auskommt.
d. Erproben von Anfängen ohne Absprachen. Welche Möglichkeiten der Kommunikation zeigen sich? (Unmöglichkeit exakt gemeinsam beginnen zu können, doch nacheinander, dabei zeigen sich aber Möglichkeiten von Frage und Antwort (Call + Response), Imitation (Nachahmung), Musterbildung (Pattern) etc.)
Vertiefte Übung: mehrmals etwa 10-sekündige Anfänge in der Gruppe probieren und aus der Erinnerung Möglichkeiten beschreiben.
e. Theoretischer Unterschied des Individuums zur Gruppe, bezogen auf das Vermögen anfangen zu können: Die (der) Einzelne kann scheinbar immer mit/bei sich selber anfangen, da der Eigenleib dies suggeriert. Beispiel: Klatschen, Falten der Hände, sämtliche Berührungen am Eigenleib (insbesondere Lippen oder Augenlider etc. – Schließungsvorgänge am Eigenleib werden immer als ganzheitlich und zugleich wahrgenommen.) Selbst dann, wenn ich ein Musikinstrument zwischen meinen Händen benutze, ist dies eine Verlängerung meines Eigenleibs („Prothese“). Dabei bin ich mir selbst gegenüber nie zu früh oder zu spät, sondern „stimme“ mit mir überein: Ich kann mit mir anfangen.
f. Gegenthese: Was der Eigenleib suggeriert, steht allerdings häufig im Widerspruch zur Wirklichkeitserfahrung: der Leib stört häufig, man stolpert über sich selbst, man verfehlt sich im Sprechen (Stottersymptom etc.). Man muss mit „Fehlern“ leben, so auch in der Improvisation. Hier sind das „Mit-sich-selbst-anfangen-können“ und die Selbstübereinstimmung in Frage gestellt.
4. Problematik des Solospiels:
Häufig verbindet sich mit dem Solospiel die allzu souveräne Haltung, sich und anderen zeigen zu wollen, dass man mit sich selbst anfangen kann. Diese Haltung ist z.B. in der klassischen Musik, aber auch im Alltagsleben gewollt und „normal“. Die (der) Solist(in) soll/ will dann zeigen, dass sie/ er anfangen kann und sich von der leiblichen Übereinstimmung mit sich, ihrem/ seinem „Ich zeige euch, ich kann es“ leiten lässt. Dieser „Egoismus“ ist aber begrenzt durch die ängstliche Strategie der Fehlervermeidung (=> oft Lampenfieber).
In der Improvisation können wir uns dessen bewusst werden und versuchen, den vermeintlich perfekten, souveränen, egoistischen Solisten vom Sockel zu holen, durch:
a. Das „Gehabe“ der Solistin/ des Solisten ignorieren, sogar bis zum Platzverweis
(Problem bei der „Offenen Bühne“: sollte man renitente Partizipierende (Hyperegos) vor die Tür setzen? => Gefahr: Destruktive Lösung für den Gemeinschaftsgeist!).
b. Geschickte Kommunikation und musikalische Einbindung des solistischen Spiels in die Gruppe (Offenheit bewahren, Spielerische Angebote an die Solistin/ den Solisten richten, von dort kommende Angebote aufgreifen und einbinden.)
c. Akzeptieren, dass eine Solistin/ ein Solist zunächst eher von ihrer/ seiner individuellen leiblichen Erfahrung ausgeht, sich aber dann möglichst gut ins Kollektiv, das (wie gesagt) von einer Anfangs-Unmöglichkeit (nicht nur am Anfang, sondern bei allen überraschenden, neuen, erstaunlichen Augenblicken während des Spiels!) geprägt ist, konstruktiv einfügt.
d. Das Solospiel in der „Freien Improvisation“ eher vermeiden bzw. nur verantwortlich und in Maßen nutzen!
Christoph Irmer
Organisiert und geleitet wurde das Projekt von Gerd Rieger, der jeweils auch als Co-Leitung an den Workshops und dem Konzert beteiligt war.
Das Projekt konnte wie geplant realisiert werden. Die Beteiligten (zwischen 12 – 16 TN je Workshop) sowie 24 Zuhörer:innen beim Konzert waren sowohl neue Interessierte und Laien wie solche, die schon häufiger an Workshops zu UNerHÖRT teilgenommen hatten.